«Epochal für die Zeitgeschichte in diesem Land»

Die Bundesverwaltung verweigert einem Doktoranden die Einsicht in brisante Archivakten. Darauf geht der Historiker bis vor Bundesgericht. Und siegt.

Urs Hafner
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Brisanter Asylfall: Der in die Schweiz geflüchtete kongolesische Philosoph Mathieu Musey mit seiner Frau und den beiden Kindern im Jahr 1987.

Brisanter Asylfall: Der in die Schweiz geflüchtete kongolesische Philosoph Mathieu Musey mit seiner Frau und den beiden Kindern im Jahr 1987.

Keystone

Ein Held sei er nicht, sagt Jonathan Pärli. Aber mutig ist er. Darum hat der Historiker, der an der Universität Basel arbeitet, von der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte (SGG) den «Preis für Forschungsfreiheit» erhalten. Die SGG hat die Auszeichnung eigens für Pärli ins Leben gerufen. «Er hat einen Entscheid des Bundesgerichts erwirkt, der epochal ist für die Zeitgeschichte in diesem Land», sagt SGG-Präsident Sacha Zala.

Jonathan Pärli forscht zur Asylgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. Der Doktorand interessiert sich besonders für den Fall Mathieu Musey, der in den 1980er Jahren hohe Wellen schlug. Als der an den Universitäten Freiburg und Bern forschende Philosoph in Mobutus Diktatur ausgeschafft werden sollte (damals Republik Zaire), solidarisierten sich landesweit Kirchen, Hilfswerke und linke Gruppierungen mit ihm. Doch vergeblich: 1988 mussten Musey und seine Familie die Schweiz verlassen, nach 16 Jahren. Wieso, ist bis heute ungeklärt.

Sicherheit des Landes?

2017 stösst Pärli im Schweizerischen Bundesarchiv auf ein umfangreiches Dossier zu Musey, das er unbedingt konsultieren will. Die Unterlagen sind als «besonders schützenswerte Personendaten» klassifiziert und daher mit einer Schutzfrist von 50 Jahren belegt. Pärli gelingt es unter grossem zeitlichem und finanziellem Aufwand, eine von Musey handschriftlich unterzeichnete Einwilligung vorzulegen, wonach dieser einverstanden sei mit der Akteneinsicht. Der in Kinshasa lebende Musey ist interessiert an der Aufarbeitung seiner Geschichte. Kurz vor der Ausschaffung hat er das autobiografische Buch «Asyl in der Schweiz: Neger haben sich zu enthalten oder Demokratie auf dem Prüfstand» veröffentlicht.

Nun verlangt aber das für die Prüfung des Einsichtsgesuchs zuständige Staatssekretariat für Migration (SEM) von Pärli, dass er die Kopie eines gültigen Ausweises von Musey nachreiche sowie die Einwilligungen und Ausweiskopien sämtlicher in den Akten erwähnten Familienmitglieder. «Das war nicht möglich. Musey besass diese Papiere nicht und war zudem alt und krank», sagt Pärli. Das SEM habe zusätzlich noch das «öffentliche Interesse» ins Spiel gebracht, dass also die Akteneinsicht unter anderem die Sicherheit der Eidgenossenschaft gefährde.

Das leuchtet Pärli nicht ein. 2018 legt er bei der nächsthöheren Instanz, beim Bundesverwaltungsgericht, Rekurs ein. Zwei Jahre braucht dieses, um ihm den Bescheid zu geben, Museys Persönlichkeit müsse tatsächlich geschützt werden, die Akten seien zu Recht gesperrt. Darauf gelangt Pärli ans Bundesgericht – das ihm nun recht gibt: Das Bundesverwaltungsgericht sei fehlerhaft vorgegangen und habe Bundesrecht verletzt, es schränke die «Wissenschafts- und Forschungsfreiheit» ein und müsse den Fall neu beurteilen.

Zudem habe das SEM den Beschwerdeführer für seinen Aufwand mit 3000 Franken zu entschädigen. Pärli hat gewonnen, höchstwahrscheinlich darf er das Musey-Dossier einsehen, aber wohl frühestens 2023 – fünf Jahre nach seinem Einsichtsgesuch. Seine Doktorarbeit hat er inzwischen abgegeben, obschon er auf das Studium relevanter Quellen verzichten musste. Und Musey ist 2021 gestorben.

Ohne Unterstützung seines Vaters, des Juristen Kurt Pärli, sowie des Juristen Andreas Kley (beide Professoren) und ehemaliger Freunde von Musey hätte er die Sache nicht durchziehen können, sagt der Historiker: «Die erste von mir angefragte Kanzlei machte mir klar, dass ohne eine mit 20 000 Franken gefüllte Kriegskasse nichts geht.» Pärli winkte ab, ein mit den Eltern befreundeter Anwalt sprang ein.

Der Fall Pärli zeigt, dass die vom nationalen Archivgesetz für den Konfliktfall vorgesehene Regelung, der Rechtsweg, nicht funktioniert. Diesen hätte der Historiker ohne die unentgeltliche juristische Expertise aus seinem privaten Umfeld kaum erfolgreich beschreiten können. Zudem steht das Schneckentempo der juristischen Mühlen jeder Wissenschaftskarriere entgegen.

Pärli sagt, das Archivgesetz müsse zugunsten der Forschung revidiert werden. Das Gesetz wägt ab zwischen den Interessen der in den Quellen erwähnten Privatpersonen, also ihrem Persönlichkeitsschutz, und dem Interesse der Öffentlichkeit an Wissen über Gegenwart und Vergangenheit. Das kann eine Gratwanderung sein. Im Fall Musey hätte es keine sein müssen.

Aufstieg des Datenschutzes

Der Doktorand Pärli ist kein Einzelfall. Historikerinnen und Historiker, die zur jüngsten Vergangenheit arbeiten, stossen vermehrt auf gesperrte Akten. So ist Vincent Barras, Medizinhistoriker an der Universität Lausanne, mit seinem Team wiederholt von Archiven und Ethikkommissionen davon abgehalten worden, die für sie erforderlichen Unterlagen einzusehen, weil sie unter Schutzfrist stehen.

Mitarbeitenden des Militärhistorikers Michael Olsansky von der ETH Zürich wurde aus dem gleichen Grund die Einsicht in Akten des Generalstabs «willkürlich eingeschränkt», wie dieser sagt: «Die Verwaltung erschwert die Forschung mehr und mehr.» Auch Wissenschafterinnen und Wissenschafter, die sich mit dem Thema der Fremdplatzierung befassen, stehen immer wieder vor Barrieren.

Ein Grund dafür ist der Selbstschutz der Verwaltung: Man will sich nicht in die Karten blicken lassen und keinen Präzedenzfall schaffen. Damit verbunden ist ein zweiter Grund: der Aufstieg des Datenschutzes, für den sich Juristen und Ethiker starkmachen. Zunächst gegen Tech-Firmen gerichtet, die digitale Personendaten für kommerzielle Zwecke sammeln, ist der Datenschutz längst auch in den Gesundheits- und Archivbereich vorgedrungen. Er hat fast die Würde eines Menschenrechts gewonnen, ohne dass spezifiziert würde, was «heikle Daten» sind und ob und wie Daten einem Menschen «gehören».

In juristischen Texten ist sogar vom «Recht auf Vergessen» die Rede, vom Recht auf Löschung der «eigenen Daten». Die EU-Archivkommission empfiehlt den Archiven, den Datenschutz zu verstärken und keine Dokumente oder Findmittel mehr online zu veröffentlichen, welche die «Würde der Datensubjekte» gefährden könnten. Das klingt schön und gut. Besser wäre es wohl, Forschung zu ermöglichen, die untersucht, wie die Würde von Menschen in der Vergangenheit verletzt wurde.

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