Geschichte

«Der ‹letzte Ketzer› ist ein Vorbild für die Ökumene»

Jakob Schmidli wagte es, die Bibel mit Gleichgesinnten selbst zu lesen. Er galt deswegen als Ketzer und wurde im 18. Jahrhundert hingerichtet. Ein neuer Dokumentarfilm und ein Buch nehmen sich der Geschichte dieser spannenden Figur an.

Im Frühling 1747 ereignet sich in Emmenbrücke im Kanton Luzern Grausames: Der durch Haft und Folter ausgemergelte Jakob Schmidli wird erwürgt und anschliessend verbrannt. Sein Haus in Sulzig ob Werthenstein wird dem Erdboden gleichgemacht. Dort, wo einst sein Anwesen stand, stellt die Luzerner Obrigkeit eine Schandsäule auf. Schmidlis Familie und seine Freunde werden des Landes verwiesen.

Jakob Schmidli gilt als letzter Ketzer, der in der Schweiz hingerichtet wurde. Sein Verbrechen: Von der Neugier angetrieben wagte er es, die Bibel selbst zu lesen und sich mit Gleichgesinnten auszutauschen – ganz nach pietistischer Manier. Dies wiederum passte manchen Amtsträgern der katholischen Kirche und der Regierung überhaupt nicht. Sie fühlten sich von Schmidli und seinen Anhängern in ihrer Landeshoheit bedroht, weshalb sie an ihm ein Exempel statuieren wollten.

Über die bewegende Geschichte von Jakob Schmidli ist jüngst ein Buch erschienen. Geschrieben hat es Gregor Emmenegger, Titularprofessor an der Universität Freiburg, zusammen mit David Neuhold von der Universität Zürich und Anton Schwingruber, ehemaliger Schultheiss sowie Regierungspräsident von Luzern und ferner Amtsnachfolger jener Männer, die Schmidli einst verurteilt hatten. Als Protagonisten treten die drei auch im Dokumentarfilm «Der letzte Ketzer» auf, der am Freitag Premiere feiert und im Herbst auf SRF gezeigt wird.

Zur Person

Gregor Emmenegger ist Titularprofessor für Patristik und alte Kirchengeschichte an der Universität Freiburg. (bat)

Herr Emmenegger, was fasziniert Sie an Jakob Schmidli?
Wie neugierig, mutig und auch ein wenig frech er war. Man muss sich das mal vorstellen: Er war ein einfacher Bauer und Fuhrmann. Als er wegen eines Auftrags in Basel war und von einem pietistischen Gebetskreis im Haus eines Seidenfabrikanten hörte, ist er dort einfach aufgekreuzt – in seinen schlichten Kleidern inmitten der vornehmen Gesellschaft mit ihren gepuderten Perücken. Schmidli war ein offener Typ und hatte für einen Bauern zu seiner Zeit eine toll ausstaffierte Bibliothek.

Warum wollen Sie seine Geschichte bekannter machen?
Weil daran Grundstrukturen der Kirchengeschichte der Schweiz sichtbar werden. Anhand der Figur Schmidlis lässt sich das Verhältnis zwischen Staat und Kirche und auch zwischen den verschiedenen Konfessionen anschaulich beleuchten. Die Luzerner Reformierten führen ihre Ursprünge auf Jakob Schmidli zurück. Er spielte auch eine wichtige Rolle in der antikatholischen Propaganda. Die Reformierten und Christkatholiken wollten mit seiner Geschichte zeigen, wie schlimm die katholische Kirche ist.

Im Jahr 2001 entschuldigte sich Anton Schwingruber, damaliger Luzerner Regierungspräsident, für das Vergehen des Staates an Schmidli. Von katholischer Seite fehlt eine solche. Stört Sie das?
Das ist eine schwierige Frage. Es war ein staatlicher Prozess, aber kirchliche Amtsträger sind in skandalöser Weise mitschuldig geworden. Daran muss erinnert werden. Doch niemand hat das Recht, sich dafür im Namen der katholischen Kirche zu entschuldigen: Diese Schuldigen sind nicht die katholische Kirche. Genau darum ging es Schmidli ja. Die Kirche soll von allen, nicht nur von einzelnen Klerikern verkörpert werden. Auch wäre ich dagegen, Schmidli heiligzusprechen: Er ist kein katholischer Heiliger. Vielmehr kann er ein Vorbild für alle Christinnen und Christen der Schweiz sein. Besonders auch für die heutige Ökumene.

Buch und Film

Der Film «Der letzte Ketzer» hat am Freitag, 24. Juni 2022 um 18.00 im Kino Bourbaki in Luzern Premiere (ausverkauft). Er wird anschliessend in ausgewählten Kinos zu sehen sein, unter anderem im Kino Cinebar in Willisau vom 1. bis 3 Juli jeweils im Vorprogramm um 17.30 Uhr und ab dem 10. Juli im Kino Bourbaki in Luzern. Das Fernsehen SRF strahlt den Film im September im Rahmen der Sendung «Sternstunde Religion» aus. Für aktuelle Informationen zu Aufführungen siehe: www.der-letzte-ketzer.ch

Auch im Buch «Kirche, Macht und der letzte Ketzer» beleuchtet Gregor Emmenegger zusammen mit David Neuhold und Anton Schwinggruber die Geschichte von Jakob Schmidli. 2022, 124 Seiten, Hardcover, farbig illustriert, Verlag TVZ, ca. 30 Franken.

(bat)

Für die Ökumene?
Das ist das Besondere an Schmidli. Er blieb immer Katholik. So heiratete er zum Beispiel in einer opulenten barocken Kirche. Nie im Leben hätte ein anderer Pietist das gemacht. Aber für Schmidli spielten konfessionelle Grenzen kaum eine Rolle. So gesehen war er seiner Zeit weit voraus.

Eines von Schmidlis zentralen Anliegen war, dass er selbst gemeinsam mit anderen die Bibel las. Woher kam dieser Drang, selbst lesen und denken zu wollen?
Er war als Verdingbub bei einem Bauern namens Augustin Salzmann tätig. Dort lernte er Schreiben und Lesen und entwickelte eine kritische Distanz zu Autoritäten. Ansonsten war es wohl auch sein Naturell. Später als Fuhrmann kam er in den reformierten Kantonen Bern und Basel auf den Geschmack des Bibellesens. Man weiss, abgesehen von den Verhören, leider nicht sehr viel über seine religiösen Überzeugungen. Schmidli hat praktisch nichts aufgeschrieben. Er wollte nichts Neues kreieren, sondern einfach mit anderen singen, beten, die Bibel lesen.

Lange liess ihn die Luzerner Regierung gewähren. Dann griff sie rigoros durch. Warum plötzlich diese Wende?
Zur damaligen Zeit hatte die Regierung kein Interesse, die Untertanen zu erziehen. Solange sie Steuern zahlten, Kriegsdienst leisteten und nicht aufbegehrten, liess man sie unbehelligt. Deshalb kümmerte es sie auch nicht, dass sich Schmidli mit Gleichgesinnten traf. Erst als seine Bewegung grösser wurde, fühlte sich die Obrigkeit von Schmidli bedroht. Spannend ist, dass er aus katholischer Sicht nichts Verbotenes tat: Bibellesen war mit Erlaubnis eines Pfarrers erlaubt. Papst Benedikt XIV. hob kurz darauf auch die Bewilligungspflicht auf. Doch die Luzerner Regierung war strenger und setzte ein Verbot durch. Man wollte keine mündigen Bürger und lehnte deshalb auch eine Volksschule ab.

Wie soll Jakob Schmidli heute in Erinnerung bleiben?
Neben seiner Bedeutung als Anwalt für eigenständiges Bibellesen und Ökumene rührt Schmidlis Geschichte an eine Grundproblematik: Wie viel abweichendes Denken verträgt ein Staatswesen? Religionsfreiheit, Toleranz und Demokratie sind nicht selbstverständlich und wurden mühsam erkämpft. Sie sind hohe Güter, die wir hegen und pflegen müssen.