Publikationsdatum 22.12.2022

Das Wort des Dekans, Joachim Negel - HS 2022/III


Liebe Mitglieder der Theologischen Fakultät
Liebe Freundinnen und Freunde

Es ist ein schwieriges Jahr, das da zu Ende geht – eines, das uns neben den Sorgen des Klimawandels, der Corona-Pandemie und den Flüchtlingsströmen aus Syrien, Afrika und dem Maghreb nun auch noch einen bösartigen Krieg mitten in Europa beschert hat. Die 1975 durch die KSZE-Schlußakte von Helsinki und zwanzig Jahre später durch die OSZE-Vereinbarungen auf eine sichere Grundlage gebrachten nachbarschaftlichen, regelbasierten Verhältnisse zwischen den Staaten Europas sind durch den völkerrechtswidrigen Angriff Rußlands auf die Ukraine Makulatur. Knapp 16,2 Millionen Menschen (mehr als ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung) waren oder sind gegenwärtig auf der Flucht, mehr als 200.000 Soldaten sind in den vergangenen zehn Monaten auf ukrainischer und russischer Seite gefallen; wieviele Zivilisten in den im Osten der Ukraine besetzten Städten und Dörfern geschändet, gefoltert und ermordet wurden, wissen wir nicht. Es dürften Tausende sein. Und der Krieg hört nicht auf, auch nicht an Weihnachten, und was das neue Jahr bringen wird, steht gleich ganz in den Sternen. – Wie tröstlich klingen da die Worte des Propheten Jesaja, die wir in der Weihnachtsmesse hören werden, wie wahrhaftig ihr Geist gegenüber der Dummheit der Mächtigen, ihrem Zynismus und ihrer kalt erklügelten Gewalt:

Das Volk, das im Dunkel lebt,
sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen,
strahlt ein Licht auf. 

Du erregst lauten Jubel
und schenkst große Freude. […] 

Denn wie am Tag von Midian zerbrichst du das drückende Joch,
das Tragholz auf unserer Schulter und den Stock des Treibers. 

Jeder Stiefel, der dröhnend daher stampft,
jeder Mantel, der mit Blut befleckt ist,
wird verbrannt, wird ein Fraß des Feuers.

(Jes 9,1-2a.3-4)

Wer würde bei diesen Worten nicht an die tapferen Ukrainer denken, die in Dunkelheit und Kälte sitzen, weil man ihnen die Elektrizitäts- und Wasserwerke, die Krankenhäuser und Schulen wegbombardiert. – Freilich, das Licht, von welchem der Prophet Jesaja spricht, ist schwach. Es ist das Licht eines Kindes, eines Neugeborenen; es braucht nur eine Gewehrkugel, ein Schrapnellgeschoß, und der Hoffnung, die es schenkt, ist der Garaus gemacht.

Und doch behauptet die Weihnachtsbotschaft das Paradoxeste, was sich nur denken läßt. Auf den Schultern dieses Kindes würde die Herrschaft des Friedens liegen. Und so würde man ihm herrliche Namen geben, man würde es nennen:

Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott,
Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens. 

Seine Herrschaft wäre groß
und der Friede hätte kein Ende.

Auf dem Thron Davids würde es herrschen über sein Reich;
würde es festigen und stützen durch Recht und Gerechtigkeit,
jetzt und für alle Zeiten.

Denn der leidenschaftliche Eifer des Herrn der Heere
würde all das vollbringen.

(Jes 9,5-6)

Wird diese betörende Prophetie des Weihnachtsfestes durch die harten Tatsachen des Ukraine-Krieges nicht widerlegt? Ja – und nein. Das diesjährige Weihnachtsbild der Theologischen Fakultät (eine Ikone des polnischen Malers Borys Fiedorowicz) zeigt den neugeborenen Christus und seine Mutter als Ukraine-Flüchtlinge. Und zeigt damit auch, wie wenig sich die Wahrheit Christi widerlegen läßt und wie wenig die ersehnte Gerechtigkeit und der herbeigewünschte Friede – mögen die Soldatenstiefel noch so sehr daher stampfen und der dumpfe Chauvinismus noch so sehr sein Haupt erheben.

Wer in diesen Tagen Weihnachten feiert, die Geburt des Christus, kann es auf angemessene Weise nur tun, wo er es im Herzen zusammen mit den Ukrainern feiert und den vielen anderen Flüchtlingen auf dieser zerschundenen Erde.
Feiern wir Weihnachten.

Joachim Negel
Dekan

Freiburg, im Dezember 2022