Publikationsdatum 31.03.2022

Welche Kirchengestalt?


Welche Kirchengestalt?

„Wir müssen uns endlich eingestehen, dass das Christentum in der seit Jahrhunderten konservierten Form bei uns im Grunde nicht besser verstanden wird als in Asien und Afrika. Es ist nicht nur dort fremd, sondern auch bei uns, weil ein Schritt ausgefallen ist: der vom Mittelalter zur Neuzeit. Das Christentum lebt gerade auch bei uns selber nicht in unserer eigenen, sondern in einer uns weitgehend fremden Gestalt, der Gestalt des Mittelalters.“

So äusserte sich der junge Theologe Joseph Ratzinger 1960 am Vorabend des Konzils im Zusammenhang mit der Diskussion um die Akkommodation des europäischen Christentums in den „Missionsgebieten“. Und er fügte hinzu: „So ist die primäre Aufgabe, die sich Theologie im Hinblick auf die Mission stellt, nicht die ‘Akkommodation’ an östliche oder afrikanische Kulturen, sondern die ‘Akkommodation’ an unseren eigenen, gegenwärtigen Geist“.

Das katholische Christentum muss aufhören, die Gestalt des Mittelalters zu konservieren.

Ratzinger brachte damit zur Sprache, was die vorkonziliare Aufbruchsbewegung dachte: Das katholische Christentum muss aufhören, die Gestalt des Mittelalters zu konservieren, die durch die tridentinische Reform und im Schatten des Ultramontanismus kaum verändert wurde. Heute aber muss das Christentum seine moderne Gestalt finden. In seiner Ansprache an die Kurie vom 21.12.2019 zitierte Papst Franziskus die Worte des Mailänder Kardinals Carlo Maria Martini in seinem letzten Interview im August 2012, wenige Tage vor seinem Tod: „Die Kirche ist zweihundert Jahre lang stehen geblieben. Warum bewegt sie sich nicht? Haben wir Angst? Angst statt Mut? Wo doch der Glaube das Fundament der Kirche ist. Der Glaube, das Vertrauen, der Mut. […] Nur die Liebe überwindet die Müdigkeit.“

Ein wesentliches Problem besteht darin, dass viele die Notwendigkeit des Übergangs nicht einsehen und für die Kirche in der Welt von heute die Lösungen der alten Kirchenepoche des 2. Jahrtausends befürworten, die nun ihren Schwanengesang erlebt. Aber weder religionssoziologisch noch religionspolitisch noch im Hinblick auf die persönliche religiöse Erfahrung sind die Bedingungen heute wie zur Zeit des Konzils von Trient oder des Ultramontanismus. Zu meinen, man könne die Kirchenkrise wieder mit einer verstärkten Bemühung um mehr „Klerus“ und mit einer erneuten Anstrengung zur Neuevangelisierung des „Volkes“ meistern, ist ein Trugschluss.  

Um den Übergang zur neuen Kirchenepoche zu gestalten, brauchen wir heute einen dreifachen Mut.

Um den Übergang zur neuen Kirchenepoche zu gestalten, brauchen wir heute einen dreifachen Mut: Erstens den Mut zu einer schöpferischen „relecture“ oder Wiedergewinnung „der“ Tradition, auf die es wirklich ankommt: den Glauben an den Gott des Lebens (Joh 10,10), den Gott Jesu Christi und die Verbreitung seiner Botschaft vom Reich Gottes, das Unwandelbare, das allen Wandlungen zugrunde liegt (Gaudium et spes 10); gelegentlich wird dies zur Kritik an Einzeltraditionen führen, ja zum Bruch mit ihnen, wenn sie lebensfremd geworden und zur Evangelisierung nicht mehr hilfreich sind. Wie G. K. Chesterton sagte, besteht die lebendige Überlieferung in der Rettung des „Feuers“, nicht in der Bewahrung der „Asche“.

Zweitens brauchen wir den Mut (und ein Karl Rahner hat es immer wieder eingeklagt), die unserer Zeit angemessenen Entwicklungen zu inaugurieren und mit einem „Tutiorismus des Wagnisses“ zu begleiten. Dazu ist die prophetische Tugend der Parrhesia, der Redefreiheit, der Anklage von Missständen und Sackgassen nötig.

Und drittens brauchen wir auch den Mut, „kognitive Minderheiten“ zu werden, die aber weltoffen bleiben und den Weg ins „Ghetto“ der Gleichgesinnten nicht einschlagen. Dieser Rückzug, der mit dem Abschied von der „Volkskirche“ einher ginge, ist für viele verlockend; er würde aber auf die Dauer die Kirche in eine gesellschaftlich marginale Sektenexistenz führen, was das Konzil mit seinem Aggiornamento-Programm gerade vermeiden wollte.

Spätestens seit dem Konzil sind wir nun in der Phase des Übergangs zu einer neuen Kirchengestalt, in der die Laien im Namen des gemeinsamen Priestertums aller Christgläubigen selbstverständlich mehr Mitverantwortung und Mitbestimmung wahrnehmen sollten.

Viele verbinden mit der nötigen „Neuausrichtung“ oder „Bekehrung“ (conversión), von der Papst Franziskus im Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ spricht, diesen dreifachen Mut, damit die neue Kirchenepoche Gestalt nimmt. Dass vieles im Fluss ist, aber noch nicht befriedigend gelöst wurde, kann man gerade anhand der Frage von Klerus und Laien zeigen. Am 11.02.1906 argumentierte Pius X. in seiner Enzyklika „Vehementer nos“ noch auf dem Boden des Paradigmas der Gregorianischen Reform des 2. Jahrtausends. Er stellt z.B. klar, dass  die Kirche „in Hinsicht auf ihre Gewalt und Beschaffenheit“ eine „ungleiche“ Gesellschaft mit den zwei Ständen, Hirten und Herde, ist: „Dabei sind diese Stände so voneinander unterschieden, dass das Recht und die Gewalt, die Mitglieder der Kirche zur Erstrebung ihres Zieles anzuregen und anzuleiten, bei der Hierarchie ruht, die Gläubigen aber die Pflicht haben, sich der Kirchenregierung zu unterwerfen und der Leitung ihrer Vorsteher gehorsam zu folgen.“

Spätestens seit dem Konzil sind wir nun in der Phase des Übergangs zu einer neuen Kirchengestalt, in der die Laien im Namen des gemeinsamen Priestertums aller Christgläubigen selbstverständlich mehr Mitverantwortung und Mitbestimmung wahrnehmen sollten. Aber gerade in der Laienfrage merkt man, wie schwer sich die Bischöfe und die römische Kirchenleitung damit tun: Sie scheinen eher um die Identität des hierarchischen Priestertums als um die Förderung des gemeinsamen Priestertums und der laikalen Mitverantwortung besorgt zu sein. Denn auch beim Konzil heisst es: „Der Amtspriester nämlich bildet kraft seiner heiligen Gewalt, die er innehat, das priesterliche Volk heran und leitet es“ (Lumen gentium 10). Der Abschied von der alten Kirchengestalt ist auf halbem Weg geblieben… und nicht jede Theologische Fakultät ist bemüht, ein neues Priester- und Laienbild zu fördern, das die unterschiedlichen Aufgaben von beiden in der Kirche wahrnimmt, aber auf die sakrale Überhöhung eines Standes im priesterlichen Volk Gottes (1 Petr 2,9) verzichtet.

Papst Franziskus geht es um eine spirituelle Einkehr und einen neuen Stil der Evangelisierung in den Fussspuren Jesu.

Ähnliches liesse sich von der „Strukturreform“ der Kirche sagen, die seit dem Konzil in der Luft steht, von diesem Papst besonders erwartet wird, aber letztlich kaum vom Fleck kommt. Franziskus weiss, dass die Dinge nicht so bleiben können, wie sie sind. Daher anvisiert er eine spirituelle Erneuerung und eine Kirchenreform. Es geht ihm um eine spirituelle Einkehr und einen neuen Stil der Evangelisierung in den Fussspuren Jesu: um eine „samaritanische Kirche“, die sich um die Armen vorrangig kümmert und angesichts der Nöte der Gläubigen eher Barmherzigkeit als Kirchenrecht anbietet, weil sie verstanden hat, dass der Herr in die Welt kam, „zu retten, nicht zu richten; zu dienen, nicht sich bedienen zu lassen“ (Gaudium et spes 3). Die Kirchenreform ist nur in Konturen erkennbar. Ihr Prinzip ist, von jenen kirchlichen Strukturen Abschied zu nehmen, „die eine Dynamik der Evangelisierung beeinträchtigen können“ (Evangelii gaudium 26). Wie weit Franziskus mit den Reformen gehen wird, wissen wir nicht. Einiges hat er aber angedeutet: weniger kurialer Hofstaat, grössere Effizienz, stärkere Beteiligung der Laien, nicht zuletzt der Frauen, und der Weltkirche, d.h. mehr Synodalität; eine Reform der Vatikanbank, die zu mehr Transparenz und zu ethischem Banking führen soll; eine Dezentralisierung im Sinne grösserer Autonomie der Bischofskonferenzen und der Ortskirchen; Überwindung des Klerikalismus; und schliesslich eine „Neuausrichtung des Papsttums“ (Evangelii gaudium 32) im Sinne von mehr Kollegialität und einer Form der Primat-Ausübung, die der Ökumene dienlich ist. Angesichts der Struktur der katholischen Kirche wird vieles von der eigenen „Kühnheit“ des Papstes abhängen, von seinem Mut und seiner Entschlossenheit zum Wandel, von seiner Fähigkeit, den „Tutiorismus des Wagnisses“ zu übernehmen. Möge das Osterfest 2022 zur Erneuerung von Kirche und Welt und zur Konzentration auf das Wesentliche führen: die Rettung des „Feuers“ der Evangelisierung, nicht die Bewahrung der „Asche“ einer vergangenen Kirchengestalt.  

Prof. Dr. Dr. Dr. h. c. Mariano Delgado, Dekan