80 Jahre Sozialanthropologie in Freiburg
Val d'Aran, Pyrenäen, Spanien; ©Viviane Cretton

80 Jahre Sozialanthropologie in Freiburg

Die Sozialanthropologie in Freiburg feierte Ende 2022 ihr 80-jähriges Jubiläum. Die meisten Menschen kennen die Soziologie einer- und die Anthropologie andererseits. Was sind aber Sozialanthropolog_innen bzw. was tun sie genau?

Prof. Agnieszka Joniak-Lüthi, Prof. Madlen Kobi, Sie forschen an der Einheit für Sozialanthropologie des Departements für Sozialwissenschaften der Universität Freiburg. Beschreiben Sie kurz, worin die Arbeit von Sozialanthropolog_innen besteht.
Madlen Kobi: Sozialanthropolog:innen erforschen Menschen in ihren sozialen Kontexten, d.h. wir untersuchen nicht körperliche Merkmale (wie es die physische Anthropologie tut), sondern interessieren uns für die Organisationsformen von menschlichen Gemeinschaften. Unsere Stärke liegt in der methodologischen Herangehensweise: Wir kombinieren verschiedene Arten von Interviews mit teilnehmender Beobachtung, was immer mit einer langfristigen Interaktion mit den Personengruppen einhergeht, die im Zentrum der Untersuchung stehen. Egal ob Milchbäuer_innen oder Bauarbeiter_innen, das Eintauchen in ihre Lebenswelten ermöglicht uns, das Handeln und Denken der Erforschten möglichst ganzheitlich aufzuzeigen. Unsere Analysen integrieren dabei immer die Vielfältigkeit, Widersprüchlichkeit und Komplexität der sozialen Welten in denen unsere Forschungsteilnehmer_innen leben.

Agnieszka Joniak-Lüthi: Als Sozialanthropolog_innen erforschen wir auch die gesellschaftlichen Machtstrukturen und sozialen Ungleichheiten und reflektieren diese in unserer Methodologie. Um diese Machtunterschiede in unserer Forschung nicht zu reproduzieren, bemühen wir uns darum, eine Vielfalt von Stimmen in unsere Analyse einzubeziehen. Wir befragen nicht nur Expert_innen und andere Personen, deren soziale Stellung sie sichtbar macht, sondern auch Personen, die schwieriger zu finden und deren Stimmen im übertragenen Sinne «leiser» sind. Die Feldforschung, sie dauert oft ein Jahr oder länger, ermöglicht uns den Wandel und die Vielseitigkeit eines Forschungsfelds zu beobachten und Personen anzutreffen, die wir sonst nie kennenlernen würden. Während einer Feldforschung lernen wir auch viel durchs Mitmachen, weil wir mit unseren Forschungsteilnehmenden leben, reisen, kochen, Gäste empfangen oder auch arbeiten.

Sie feierten am 2. Dezember 2022 den runden Geburtstag der Einheit für Sozialanthropologie. Auf welche Errungenschaften kann die Sozialanthropologie in Freiburg zurückblicken?

Prof. Agnieszka Joniak-Lüthi

AJL: Die Sozialanthropologie ganz generell, und die in Freiburg ganz besonders, hat es in meinen Augen geschafft, sich in der postkolonialen Welt neu zu erfinden und aktuelle Fragestellungen zu entwickeln, auch wenn wir uns dem kolonialen Erbe der Disziplin durchaus bewusst sind. Die Sozialanthropologie in Freiburg war bis 1989 sehr eng mit dem Missionierungswesen und der katholischen Kirche verbunden – Prof. Christian Giordano, der 1989 die Professur für Sozialanthropologie in Fribourg angetreten hatte, war der erste Nicht-Pater in dieser Funktion. Mit seinem Forschungsschwerpunkt auf sozialistische und postsozialistische Gesellschaften sprach er hochaktuelle Themen an, die für Europa von zentraler Bedeutung waren und immer noch sind. Heute, mit unseren Forschungsschwerpunkten in China, Zentralasien, Europa und Afrika, sowie Forschungsprojekten zu dezentralen Formen der Energieversorgung, zu Kreislaufwirtschaft, Cyber-Sicherheit, Transportinfrastruktur, Klima, Migration und Gender behandeln wir in unserer kleinen Einheit ein breites Spektrum an hochaktuellen Themen.

Und was bedeutet dieses Jubiläum für Sie persönlich?
MK: Für mich kommt das Jubiläum zeitgleich mit meinem Antritt als Assistenzprofessorin an der Einheit für Sozialanthropologie. Ich identifiziere mich wenig mit den früheren, missionarisch ausgerichteten Lehrstühlen für Sozialanthropologie, die unser Fach hier in Freiburg bis in die 1980er Jahre prägten. Doch auch heute noch beschäftigen uns Rassismus, Kunstraub und Nähe zur kirchlichen Mission, da sie Spuren bis in die Gegenwart hinterlassen haben – man denke an die Debatten zu ethnographischen Museumssammlungen und zur kolonialen Rolle der Schweiz. Während unsere Forschungsschwerpunkte auf zeitgenössischen Phänomenen liegen, berücksichtigen wir immer deren historische und kulturelle Einbettung.

AJL: Für mich war dieser Anlass eine Gelegenheit, kurz innenzuhalten und uns als Team wahrzunehmen und der breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Es war toll zu erleben, wie motiviert das Team an den Vorbereitungen mitgewirkt hat, auch die Studierenden, die in kürzester Zeit ein Multimedia-Projekt zum Thema Sozialanthropologie auf die Beine gestellt haben. Dabei wurde mir erst richtig bewusst, welche Vielfalt an Forschungsprojekten und welch kreatives Potential wir in der Einheit haben.

Wie kam die Sozialanthropologie überhaupt nach Freiburg? Und dann auch noch in so einer turbulenten Zeit wie dem Zweiten Weltkrieg!
MK: Das hatte mit der Stärke der damaligen katholischen Kirche in Freiburg zu tun. Pater Wilhelm Schmidt, ein anerkannter Religionswissenschaftler und Ethnologe, kam im Zuge des 2. Weltkriegs von Wien nach Freiburg, wo er 1942 den ersten Lehrstuhl für Ethnologie etablierte. Mit ihm migrierte auch das Anthropos-Institut, damals das Zentrum der Wiener Kulturkreislehre. Danach wurde der Lehrstuhl immer wieder von Priestern besetzt, bis 1989 mit Christian Giordano erstmals kein Pater, sondern ein Soziologe mit Interesse an Sozialanthropologie die Leitung übernahm.

AJL: Diese früheren Verflechtungen mit dem Missionierungswesen und der katholischen Kirche, sowie die problematischen Biographien mancher Pater-Professoren ist ein Thema, dass wir bald in einem Seminar aufarbeiten möchten.

Ein Blick auf Ihre Website zeigt verschiedene Forschungsschwerpunkte, etwa in den Bereichen Infrastruktur, Stadt, digitale Welten, Mobilität, Familie und Gender. Können Sie ein paar konkrete Beispiele nennen? Welche Fragen beschäftigen Ihre Einheit aktuell?

MK: Die Forschungsprojekte an der Einheit sind sehr vielfältig: Wir analysieren den Bau bzw. Zerfall von Energie- und Verkehrsinfrastrukturen in Asien und Europa, aber auch gesellschaftliche, politische und kulturelle Transformationen in Bergregionen. Wir beschäftigen uns mit den Herausforderungen von nordafrikanischen Migrant_innen genauso wie mit den Lebenswelten von Hacker_innen. Ich selbst untersuche mit meinem Team, wie wir als Menschheit mit den enormen Abfallströmen aus der Bauindustrie umgehen wollen. Welches Wissen und welche Fähigkeiten brauchen Architekt_innen, Ingenieur_innen aber auch Schrotthändler_innen, um die Kreislaufwirtschaft im Bau voranzutreiben? Statt von unendlich verfügbaren Ressourcen auszugehen, arbeiten wir mit Pionier_innen zusammen, die einen sparsameren und bewussteren Umgang mit Baumaterialien vorantreiben.

Strassen können auf ganz unterschiedliche Weise benutzt werden, so wie hier zum Trocknen von Sonnenblumenkernen in Kirgistan; ©Agnieszka Joniak-Lüthi

Und mit welchen Fragen werden sich die Sozialanthropolog_innen in Zukunft beschäftigen (müssen)?
AJL: Ein neues Thema, das ich in den nächsten Jahren gerne entwickeln würde, ist die zunehmende Standardisierung unseres Essens sowie die gesundheitlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen dieser Entwicklung. In unserer Forschung werden wir auf jeden Fall nah an aktuellen gesellschaftlichen Themen bleiben.
Was ich ebenfalls als wichtig erachte und weiter ausbauen möchte, ist die Verbindung zu Industrie und Politik. In meinem Team legen wir Wert darauf, dass unsere Forschungsresultate breit zirkulieren und auch nicht-akademische Kreise erreichen. Wir erarbeiteten zum Beispiel eine Multimedia-Story, die die anthropologische Feldforschung auf zugängliche Weise reflektiert und entmystifiziert. Weiter haben wir zwei Factsheets (Links siehe unten) veröffentlicht, die sich an Regierungen, NGOs, Medien und Think-Tanks richten. Zu diesem Zweck haben wir Kontakte mit entsprechenden Partner_innen aufgebaut. Das erfordert viel Zeit, ist für uns aber von zentraler Bedeutung, um die Gesellschaft und Politik mitgestalten zu können.
Ein Teil davon ist auch das Engagement für den freien Zugang zu Wissen, Stichwort «Open Access». Madlen Kobi und ich arbeiten an dieser Entwicklung aktiv mit und leisten durch die Gründung des Webjournals Roadsides einen Beitrag dazu.

Prof. Madlen Kobi

MK: Die Verbreitung des Internets und die Verlagerung vieler sozialer Aktivitäten ins Digitale wird uns sicherlich noch länger beschäftigen. Zu diesem Thema bietet unsere Einheit zusammen mit der Religionswissenschaft und der Soziologie ab dem Herbstsemester 2023 auch einen neuen 30 ECTS Master zu «Digital Society» an. Aber auch globale Migrationsströme und die Reaktionen darauf im globalen Norden bleiben weiterhin ein Thema, genauso wie der Klimawandel und die damit einhergehenden Veränderungen, nicht nur für Menschen an überfluteten Küstenregionen oder entlang von schmelzenden Permafrostböden, sondern auch als Treiber politischer Organisationen weltweit.

Zum Schluss: Es gibt Witze über Germanist_innen, Sozialarbeiter_innen… Gibt es auch Witze über Sozialanthropolog_innen?
MK: Wer gehört alles zu einer modernen Navajo-Familie? – Mutter, Vater, Kinder, Grossmutter und ein_e Sozialanthropolog_in!

Oder auch: In einer Hütte mitten im Regenwald sitzt eine Gruppe Indigener. Als sie zum Fenster hinausblicken, meint der eine: «Hey, da kommt ein Sozialanthropologe. Schnell, lass uns den Fernseher verstecken!»

Diese Witze beziehen sich vor allem auf die frühere Art, wie Sozialanthropolog_innen forschten, nämlich in – aus westlicher Perspektive – «abgelegenen» Gebieten der Welt, wo sie die religiösen, politischen oder gesellschaftlichen Organisationsformen dokumentierten. Heute beschäftigen wir uns aber längst nicht mehr nur mit Ritualen der ‘Anderen’, sondern betreiben Forschung zu Migration in der Schweiz, Gender in Armenien, Wasserkraft in den Alpen oder zur Bauwirtschaft in Städten.

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Author

Julian Steiner war Elektriker, Schreiner, Campaigner, Hotel-Allrounder, Pharma-Rohstoff-Einkäufer und Berufsbildungsfachmann, bevor er seine Heimat in der Welt der Unternehmenskommunikation fand und seit 2023 für das Team Unicom textet und die Social Media Kanäle bewirtschaftet. Wenn er nicht an der Uni Freiburg Dinge mit Buchstaben anstellt, unterrichtet er Allgemeinbildung an einer Berner Berufsfachschule oder schaut von seinem Balkon auf den Thunersee, hört Death Metal und denkt nach.

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