Islamisch-theologische Studien: Diversität und Orientierung

«Seelsorgende begegnen bei ihrer Arbeit in einer öffentlichen Institution wie dem Krankenhaus nicht nur anderen Religionen oder Weltanschauungen, sondern auch einer - auf den ersten Blick nicht immer erkennbaren - Vielfalt von Seelsorgeempfänger:innen derselben Religionsgemeinschaft. Diese Diversität bezieht sich nicht nur auf soziodemographische Merkmale, sondern erstreckt sich auch auf eine Vielfalt von Glaubenspraktiken und -orientierungen. Das bedeutet, dass sich Seelsorgende,Patient:innen,Angehörige und andere Adressat:innen seelsorgerischer Unterstützung sowohl mit ähnlichen als auch mit unterschiedlichen religiösen Überzeugungen und Praktiken begegnen und interagieren. In meinem Projektprofil untersuche ich die Frage, wie innermuslimische und weitere Formen von Diversität im Kontext des Krankenhauses wahrgenommen und verstanden werden und welche handlungsleitenden Orientierungen im Umgang damit bestehen.» Dilek Uçak-Ekinci

Kurzbeschrieb

Diversität und Orientierung bilden aktuell zwei wichtige diskursive Bezugspunkte sowohl gesamtgesellschaftlicher als auch innermuslimischer Diskussion. Gleichzeitig unterscheiden sich die inhaltlichen Verständnisse beider Begriffe im gesellschaftlichen Diskurs einerseits und im innermuslimischen Diskurs andererseits massgeblich. In muslimischen Diskursen geht es meist um die Aushandlung von Islamizität im Kontext eines schweizerischen, pluralen und säkularen Gesellschaftsrahmens. In gesellschaftlichen Diskursen geschieht die Bezugnahme auf Diversität und Orientierung vielfach zum Zweck der Aushandlung gesellschaftlicher Zugehörigkeit.

Obwohl die Begriffe in den unterschiedlichen Diskursgruppen zunächst inhaltlich verschieden gedeutet werden, lassen sich starke wechselseitige Verflechtungen feststellen. Die Aushandlung der Zugehörigkeit zu Gesellschaft prägt die Definierung des Muslimischseins von in der Schweiz lebenden MuslimInnen, genauso wie sich die Aushandlung von Islamizität auf das Verständnis von Gesellschaft insgesamt auswirkt. Diversität und Orientierung werden so zu Leitbegriffen mehrdimensionaler und überlappender Aushandlungsprozesse innerhalb als auch zwischen variierenden Bezugsgruppen.

In diesem Spannungsfeld an der Schnittstelle von Gesellschaft und Islam setzt das Projekt an. Es identifiziert zwei Praxisfelder (Bildung und Seelsorge) und zeigt daran auf, inwiefern eine Diskussion über Diversität und Orientierung Ressourcen für eine konstruktive Begleitung der auf unterschiedlichen Ebenen stattfindenden Aushandlungsprozesse bieten kann. Ein signifikantes Strukturelement des Projekts ist die Einbeziehung islamisch-theologischer Reflexionen als einen von mehreren wissenschaftlichen Zugängen. Diese spezielle Projektausrichtung ermöglicht es, die beschriebenen Aushandlungsprozesse als Kommunikation auf Augenhöhe zu verstehen und von diesen Diskussionen Betroffene als ermächtigte AkteurInnen zu betrachten. Neben wissenschaftlichen Publikationen werden die Ergebnisse unter anderem über Workshops in den Praxisfeldern und auf einer Website breiten Zielgruppen vermittelt. Das Projekt leistet auch einen Erkenntnistransfer zwischen den Sprachregionen und stärkt die Konsolidierung einer islamisch-theologischen Selbstreflexion im Rahmen der Universität.

Projektleiter:

Prof. Dr. Hansjörg Schmid

Prof. Dr. Amir Dziri

Projektmitarbeitende:

Zeinab AhmadiSébastien Dupuis

Dilek Uçak-Ekinci

«Die Forschung rund um Bildung und Migration findet bisher vorwiegend vor dem Hintergrund eines ‘Defizitframings’ statt. Mir ist es ein Anliegen, diesem problematisierenden Tenor im Rahmen unseres Forschungsprojekts einen ressourcenfokussierten Ansatz entgegenzusetzen. Denn muslimische Jugendliche und junge Erwachsene werden in pluralen Gesellschaften sozialisiert und eignen sich bereits früh wertvolle Kompetenzen an, um sich mit ihren verschiedenen Teilidentitäten darin zu verorten. Die formale und religiöse Bildung und damit einhergehend die religiöse Sprech- und Diskursfähigkeit von Jugendlichen nehmen in diesen Prozessen der Selbstermächtigung eine zentrale Rolle ein. Ein wichtiges Ziel des Projektes ist es daher auch, Möglichkeiten bereitzustellen diese Kompetenzen weiter zu fördern.» Zeinab Ahmadi
«Islamdiskurse in der Schweiz tendieren dazu, die Präsenz und Sichtbarkeit von MuslimInnen als politisches Problem darzustellen. Diese Diskurse haben einen performativen Charakter setzen einen Prozess der Inklusion und Exklusion von Bevölkerungsgruppen, die sich als MuslimInnen identifizieren, in Gang. In diesem Projekt beschäftige ich mich mit der Frage, wie postmigrantische MuslimInnen verschiedene Strategien der Anerkennung entwickeln und damit essentialisierende Vorstellungen von Diversität neu verhandeln. Ich werde mich auf den Westschweizer Kontext konzentrieren und untersuchen, wie MuslimInnen, die in der Schweiz in einem pluralistischen und diversifizierten Kontext sozialisiert wurden, sich zu diesen präskriptiven Diskursen verhalten und wie Ressourcen umstrukturiert werden, die sie zur Orientierung mobilisieren.» Sébastien Dupuis
«Diversität ist zu einem allgegenwärtigen Thema in gesellschaftlichen Diskursen geworden. Allerdings wird der Islam in diesen Diskursen nur selten mit Diversität in Verbindung gebracht, und wenn, dann meist in Bezug auf die vermeintliche Unvereinbarkeit islamischer Praktiken und Glaubensinhalte mit gesellschaftlicher Pluralität. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt jedoch, dass muslimisches Leben seit jeher durch verschiedene Formen von Diversität geprägt wurde, beispielsweise durch die Vielfalt an Lehrmeinungen, Sprachen, lebensweltlichen Kontexten oder weltanschaulichen Positionen. In diesem Projekt befasse ich mich daher aus einer diachronen und synchronen Perspektive mit den Debatten um Diversität und Orientierung in islamischen Wissensdiskursen. Das Ziel meiner Arbeit ist es, aus einer islamisch-theologischen Reflexion heraus konstruktive Ressourcen für den Umgang mit Vielfalt in der Gegenwart zu entwickeln.» Dominik Müller
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