07.08.2012

Leistungsstarke Migranten in der Berufsbildung


Die besten Lehrabgänger in der Schweiz sind oft Migranten. Sie stehen den besten Schweizer Lehrlingen häufig in nichts nach, sondern steigen sogar erfolgreicher ins Berufsleben ein. Zu diesem Schluss kommt eine neue Studie der Universität Fribourg, die im Auftrag des Bundesamtes für Berufsbildung und Technologie (BBT) durchgeführt wurde. Im Unterschied zu vielen bisherigen Studien zeigt sie auf, dass man mehr über Benachteiligungen von Migranten erfahren kann, wenn man nicht die Negativfaktoren ihres Schul- und Ausbildungsversagens untersucht, sondern die Erfolgsfaktoren von typischen Aufsteigern.

Das Team von Margrit Stamm am Departement Erziehungswissenschaft der Universität Fribourg hat 750 Lehrabgänger untersucht, welche im Jahr 2009 hervorragende Noten in den Lehrabschlussprüfungen erzielt hatten. Die Hälfte davon waren Schweizer, die anderen hatten einen Migrationshintergrund. Zwei Jahre später wurde ihr Berufserfolg unter die Lupe genommen. Ergebnis: Die Migranten waren erfolgreicher im Beruf als die Einheimischen: Sie verdienten mehr und hatten sich einen höheren beruflichen Status erarbeitet, vor allem die Männer.

Im nun vorliegenden Schlussbericht betont Professorin Margrit Stamm, dass es sich bei diesen leistungsbesten Migranten um eine sehr heterogene Gruppe handelt. So haben sie überdurchschnittlich oft Väter mit akademischer, noch öfter allerdings solche mit minimalster Schulbildung oder gar einer IV-Rente. Zudem sind das Einreisealter sowie die Bleibeabsichten der Familie stark mit dem Erfolg verknüpft. Der in der aktuellen Diskussion oft benutzte Begriff „Migrationshintergrund“ charakterisiert diese Gruppe von Jugendlichen somit völlig ungenügend.

Stamm betont, wie bedeutsam leistungsstarke Migranten heute sind: Angesichts der demographischen Entwicklung ist die Schweiz mehr denn je darauf angewiesen, das Potenzial junger Einwanderer auszuschöpfen. Der drohende Nachwuchsmangel erfordert neue Strategien, um solche Fachleute zu finden. Es sei somit an der Zeit, den einseitigen, negativen Blick auf ‚den gescheiterten Migranten‘ zu überwinden.

Sitzengeblieben und Realschule besucht – trotzdem an der Leistungsspitze

Im Vergleich zu den besten einheimischen Lehrabgängern haben diejenigen mit Migrationshintergrund häufiger eine Klasse wiederholt und lediglich eine Realschule besucht. Doppelt so oft sind sie zudem nicht direkt in die Berufsausbildung eingestiegen, sondern lediglich über eine Zwischenlösung. Die berufliche Grundbildung, so die Forscher, könne somit nach einer eher ungünstigen Schullaufbahn zur grossen zweiten Chance werden.

Die 153 Betriebe, in denen die untersuchten Migranten ihre Lehre absolvierten, verfügen über ein spezifisches Profil. Gemäss Stamm finden sie sich zu 45% im technischen Bereich sowie in Gesundheits- und Sozialberufen. Wichtig seien auch die Ausbildner, weil sie häufig als Vorbilder und Mentoren wirken und den jungen Migranten das Tor zu einem beruflichen Netzwerk öffnen. Das Forscherteam unterstreicht jedoch, dass die tatsächlichen Förderanstrengungen für Migranten auch in diesen Betrieben noch relativ bescheiden seien.

Beruflich erfolgreicher als die Einheimischen

Die leistungsbesten Migranten sind beruflich erfolgreicher als die untersuchten Schweizer. Laut Stamm betrug ihr Salär im Jahr 2011, zwei Jahre nach Lehrabschluss, durchschnittlich 3885 Franken, dasjenige der Einheimischen lediglich 3500 Franken. Auch im Berufsstatus haben die Migranten die Einheimischen überflügelt, gehen sie doch zu 41% einer beruflichen Tätigkeit nach, die deutlich über dem Status des Ausbildungsberufes liegt. Bei den Schweizern sind es nur 38%. Die Forscher nehmen an, dass Migranten deutlich unzufriedener waren mit dem angestammten Beruf und ihn deshalb fast doppelt so häufig wechselten wie die Gruppe der Einheimischen.

Zentral für den Ausbildungserfolg der leistungsbesten Migranten ist die Unterstützung ihrer Familien. Verglichen mit den Schweizern (48%) stammen sie überdurchschnittlich oft (68%) aus sehr bildungsambitionierteren Elternhäusern. Häufig trägt die Unterstützung durch ältere Geschwister sowie die zusätzliche finanzielle Nachhilfe dazu bei, die fehlenden Möglichkeiten der Familien zu kompensieren. Stamm unterstreicht, dass die übliche Annahme falsch ist, dass Migrantenfamilien generell wenig an der Bildungslaufbahn ihres Nachwuchses interessiert seien.

Migranten als grösste Gruppe der Minderleister

Margrit Stamm betont, dass es sich bei diesen untersuchten Migranten um eine kleine Gruppe handelt, die es bis an die Leistungsspitze geschafft hat. Der grösste Teil der bei uns lebenden Migranten – etwa 80% - bleibt jedoch deutlich zurück. Und zwar in überwiegendem Ausmass nicht etwa deshalb, weil sie dumm sind, sondern weil sie zu wenig gefördert werden. Migranten seien wahrscheinlich, so führt Stamm aus, die grösste Gruppe der Minderleister in der Schule. Würde man nicht immer nur auf die Negativmerkmale dieser Gruppe setzen, sondern sich an den Erfolgsfaktoren orientieren, dann könnte man solche Begabungsreserven viel besser nutzen. Margrit Stamm will deshalb einen Katalog ausarbeiten, der aufzeigt, wie solche Kinder und Jugendliche besser gefördert werden können. Zudem organisiert sie zusammen mit dem Bundesamt für Migration und dem Bundesamt für Berufsbildung im Frühling 2013 eine Tagung mit dem Titel «Migranten mit Potenzial».

Kontakt: Prof. Margrit Stamm, Departement Erziehungswissenschaften, 026 300 75 60/031 311 69 69, margrit.stamm@unifr.ch