Neurowissenchaften19.12.2016

Wahrnehmen ohne zu sehen


Folgende Szene: Ein blinder Patient sitzt vor seinem Arzt, der ihm einen Tennisball zuwirft. Der Patient sieht zwar den Arzt nicht, fängt aber ohne zu zögern den Tennisball. Dahinter steckt kein Trick, sondern eine Testreihe der Universität Freiburg, die erstmals beweist, dass Personen, die unter kortikaler Blindheit leiden, in gewissen Fällen in der Lage sind, Bewegungen wahrzunehmen oder gar unterschiedliche Bewegungen zu identifizieren.

Ein Blinder, der Anzeichen von visueller Wahrnehmung zeigt, sorgt für Aufsehen. Ein populäres Beispiel ist das Video, das den blinden Sänger Stevie Wonder zeigt, wie er spontan nach einem umfallenden Mikrophon greift. Die gefilmte Sequenz machte die Runde, Stevie Wonders Blindheit stand plötzlich in Frage.

Blind nach Schlaganfall
Forschende des Departements für Psychologie der Universität Freiburg haben sich mit dem Phänomen des Blindsehens befasst, und zwar am Beispiel eines Patienten, genannt BC, der in Folge eines Schlaganfalls erblindet ist. „Aus klinischer Sicht ist BC vollkommen blind“, erklärt der Neuropsychologe und Forscher am Eye and Brain Mapping Laboratory Nicolas Ruffieux. „Die Augen des Patienten sind zwar intakt, aber die Hardware, die es ermöglicht visuelle Stimuli zu interpretieren, ist ernsthaft beschädigt“.

Verblüffende Resultate
BC ist nicht in der Lage, den Tennisball zu erkennen, der ihm aus einer Distanz von unter einem Meter gezeigt wird. Trotzdem kann er dem Ball mit den Augen folgen. „Die visuelle Information erreicht sein Gehirn, dieses aber kann sie nicht richtig übersetzen“, folgert Meike Ramon, Forscherin am Eye and Brain Mapping Laboratory. Den Forschenden ist in einem weiteren Schritt der Beweis gelungen, dass BC fähig ist, verschiedene menschliche Bewegungen mit erstaunlicher Präzision zu verarbeiten. Diese Erkenntnis bestätigt, dass die neuronalen Netzwerke, die dazu dienen Bewegungen zu analysieren, auch bei einer starken Schädigung des visuellen Kortex noch immer zumindest teilweise funktionsfähig sein können. Es ist das erste Mal, dass ein solcher Beweis im Falle einer ausgeprägten Läsion erbracht werden konnte. Die Resultate der Forschung wurden kürzlich in der Fachzeitschrift Neuropsychologia publiziert.

Therapeutische Perspektiven
Die genaue Diagnose der verbleibenden visuellen Kapazitäten kann dabei helfen, effiziente Therapieansätze zu entwickeln. Die Forschenden der Universität Freiburg befassen sich nun mit der Verwendung von sogenannten „smart glasses“ (Augmented Reality- oder Datenbrillen), die vielversprechende Perspektiven eröffnen, um das verbliebene Sehvermögen eines jeden Patienten maximal auszunutzen.