20.05.2015

Eltern gestern und heute vereint im selben Wunsch


Ab 1964 zeichnete sich ein Baby Bust ab, die Anzahl an Kindern pro Partnerschaft begann zu sinken. Aus Sicht gewisser Historiker und Medien aus jener Zeit, war der Rückgang die Konsequenz einer egoistisch motivierten Entscheidung der Eltern, die je länger je mehr ihre Selbstverwirklichung ins Zentrum stellten. Nicht so für Caroline Rusterholz, Doktorandin am Bereich Zeitgeschichte der Universität Freiburg, die die Ursache des Geburtenrückgangs vielmehr im Wunsch der Eltern sieht, den Kindern mehr Qualität bieten zu können. Ein Wunsch, der sich bis heute nicht verändert hat.


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Seit Beginn des 20. Jahrhunderts konnte zwei Mal ein sogenannter Baby Bust beobachtet werden. Der Geburtenrückgang um 1900 wurde von Seiten der Historiker klar dem Umstand zugeschrieben, dass die Eltern vermehrt den Wunsch hatten, in die Qualität und nicht in die Quantität zu investieren bezüglich ihres Nachwuchses. Die zweite Baby-Bust-Welle zeichnete sich um 1964 ab und wurde – etwas vorschnell – mit der Annahme erklärt, dass die Eltern sich vermehrt mit ihrer persönlichen Entwicklung und Entfaltung beschäftigen würden. Eine Annahme, die in der Doktorarbeit von Caroline Rusterholz am Bereich Zeitgeschichte nuanciert wird.

Mit dem Ziel, den gegenwärtigen Prozess besser verstehen zu können, befasst sich Caroline Rusterholz in ihrer in Freiburg und Lausanne durchgeführten Forschung einerseits mit der Entstehung von neuen Normen und andererseits mit der Aufnahme ebendieser Normen. Als Folge der sozio-ökonomischen Veränderungen (Konsumgesellschaft, Entwicklung der Sozialhilfe und der Berufe im tertiären Sektor, Zunahme der Frauen auf dem Arbeitsmarkt) entstand ein Bedürfnis nach neuen Gesellschaftsstrukturen. Die Familien- und Schulpolitik musste angepasst und umgesetzt werden. Verbreitet wurden die neuen gesellschaftlichen Richtlinien über die Medien, religiöse Einrichtungen und Ärzte. So gewann die Ausbildung der Kinder, beispielsweise, zunehmend an Bedeutung. Die Sekundarschule war ab 1960 in Lausanne nicht mehr kostenpflichtig. In Freiburg konnten die Kinder ab 1971 gratis zur Schule gehen, ab 1965 gab es jedoch bereits Unterstützung durch Stipendien. Gleichzeitig begann man sich mit der Wichtigkeit von Zuneigung resp. den Konsequenzen von zuwenig Zuneigung auseinanderzusetzen und die Eltern, allen voran die Mütter, wurden ermutigt, mehr Quality Time mit den Kindern zu verbringen und bestimmte Konsumgüter zu kaufen.

Im Sinne des Kindes

Bisher nicht erforscht wurde die Aufnahme dieser neuen Diskurse. Caroline Rusterholz führte in ihrer unter Prof. Anne-Françoise Praz durchgeführten Arbeit insgesamt 48 Gespräche mit Einzelpersonen und Paaren durch, die zu jener Zeit Eltern waren. Ihr Ziel war es, verstehen zu können, wie die damaligen Veränderungen interpretiert und im Alltag gelebt wurden. Die junge Wissenschaftlerin kann heute aufzeigen, dass die Selbstverwirklichung der Eltern nicht auf Kosten des Kindes ging, sondern, ganz im Gegenteil, einen positiven Einfluss hatte. Ging es Mama und Papa gut, ging es ihnen auch als Eltern besser, so der Tenor. Auch die Emanzipation und die Zunahme an arbeitenden Frauen wurden nicht in erster Linie als persönliche Aufwertung verstanden. Die Mütter aus der Mittel- und Unterschicht waren zwar stolz auf ihre neuen Arbeitsstellen und freuten sich darauf, den beruflichen Horizont erweitern zu können. Allem voran aber, wurde die Arbeit als ein Mittel gesehen, aktiv zum Familienbudget beitragen zu können. Nur wenige Frauen verprassten das neu verdiente Geld für persönliche Spässchen, wie ihnen in den Medien damals unterstellt wurde.

Caroline Rusterholz unterstreicht auch die immer wichtiger werdende Rolle der Gynäkologen, die zu wahren Ansprechpartnern wurden. „Sie waren es, die den Frauen Auskünfte zum Thema Verhütung geben konnten“, erklärt die Forscherin. „Dabei gab es aber gewaltige Unterschiede zwischen Lausanne und Freiburg. Die protestantischen Gynäkologen informierten ihre Patientinnen bereitwillig über alle existierenden Methoden; in Freiburg setzte man einzig auf die natürliche Verhütung. Die Frauen suchten auch selber nach Informationen, zusammen mit ihren Partnern, was eher überraschend war. In England, zum Beispiel, war einzig der Mann für die Fragen zur Verhütung zuständig. Die Ignoranz der Frau galt als Zeichen des Respekts. In der Schweiz öffnete die Verhütung der Frau schliesslich die Türen zur Emanzipation: Die Frauen verhüteten, um bessere Mütter zu werden. Wer sich dafür entschied, nur zwei Kinder zu haben und daneben arbeiten zu gehen, tat dies, um diesen Kindern, ein Maximum an Möglichkeiten bieten zu können. Eine Überlegung, die sich bis heute nicht gross verändert hat.“

Kontakt:
Caroline Rusterholz, caroline.rusterholzcr@gmail.com
Prof. Anne-Françoise Praz, anne-francoise.praz@unifr.ch, 026 300 7928