19.03.2015

Männer als Opfer von Gewalt


Gewalt an Menschen durch Mitmenschen ist kein seltenes Phänomen. Männer sind davon ebenso sehr betroffen wie Frauen. Und doch nehmen sie das Angebot der Opferhilfe seltener in Anspruch. Die Soziologin Anne Kersten hat in ihrer Dissertation den Grund dafür untersucht.




Foto: Getty Images

30'000 Personen nehmen das Angebot der Opferhilfe jährlich in Anspruch. Nur knapp ein Viertel davon sind Männer. Dies, obwohl die Kriminalitätsstatistik zeigt, dass Männer ebenso häufig Opfer von Gewalt sind wie Frauen, jedoch im Gegensatz zu diesen eher im öffentlichen Raum als zuhause. Macht Gewalt Frauen schneller und stärker zu Opfern als Männer? Oder spielen hier etwa die alten gesellschaftlichen Bilder von Männlichkeit eine Rolle? Die Soziologin Anne Kersten des Studienbereichs Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit an der Universität Freiburg untersuchte in ihrer Dissertation Opferstatus und Geschlecht, Entwicklung und Umsetzung der Opferhilfe in der Schweiz, wie sich die staatliche Opferhilfe in der Schweiz zwischen 1978 bis 2011 entwickelte.

Opferstatus im Kopf und Realität

Die Opferhilfe wurde in der Annahme aufgebaut, so das Resultat von Kerstens Arbeit, dass vor allem Frauen oder Mädchen Gewalt erleiden. Die Soziologin wertete anhand der schriftlichen Quellen aus, wie das Gesetz einerseits auf politischer Ebene, in Parlament und Kommissionen diskutiert und wie andererseits das Thema der Gewalt an Menschen durch die Medien aufgenommen wurde. «Dass Männer ebensosehr Gewalt erfahren und dabei Schädigungen und Angst entwickeln», sagt Anne Kersten, «wurde als Ausnahme behandelt, als Möglichkeit mit geringer Wahrscheinlichkeit.» Man ging ausserdem davon aus, dass Männer Gewalt selber bewältigen könnten. Ab 2002 seien zwar erste Medienberichte aufgetaucht, die von männlichen Opfern erzählten, «diese Männer wurden jedoch als Versager dargestellt.» Das gängige gesellschaftliche Bild vom starken Mann und der leicht verletzlichen Frau prägte den politischen Diskurs.

Starke kantonale Vorgaben als Vorteil


Der Vergleich der Opferhilfe zwischen dem Kanton Bern und den beiden Basel zeigte, dass dieses Denkschema auch durchbrochen werden kann. Der Anteil beratener Männer in Bern und Basel ist sehr verschieden. In Bern liegt er bei 17 Prozent, in Basel bei 37 Prozent. «Der grosse Unterschied» sagt Kersten, «beruht nicht darauf, dass es in Basel mehr Gewalt gegen Männer gibt, sondern dass die Opferhilfe anders umgesetzt wurde. Der Kanton Bern baute seine Opferhilfe ohne zentrale Koordination hauptsächlich auf den bestehenden Angeboten auf. Vereine, die sich mit ihrem Angebot vorrangig an weibliche Gewaltopfer gerichtet hatten, konnten ihre Arbeit nun im Rahmen der Opferhilfe fortsetzen. Die beiden Basel hingegen schafften von Beginn weg neue Strukturen und nahmen bei der Umsetzung des Gesetzes eine stark lenkende Funktion ein.» So konnte man auch flexibler handeln, als man erkannte, dass Männer ebenso stark betroffen sind von Gewalt wie Frauen und der ausserhäuslichen Gewalt an Männern die nötige Aufmerksamkeit schenken.

Beitrag zur Evaluation

Die Opferhilfe wurde 1984 vom Volk beschlossen und trat 1993 in Kraft. Wer durch eine Straftat in seiner körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar verletzt wird, hat seither Anrecht auf staatlich finanzierte Unterstützung. Aufgrund der Resultate ihrer Dissertation empfiehlt Kersten den kantonalen Stellen, Räume und Ressourcen für die Opferhilfe für Männer zu schaffen und dabei zwischen der häuslichen und ausserhäuslichen Gewalt zu unterscheiden. Weiter empfiehlt sie den Opferhilfestellen, die Angebote und den Auftritt zu überdenken. In einigen Fällen sei nicht klar, dass sich das Angebot auch an Männer richte.

Aktuell wird das Opferhilfegesetz im Auftrag des Bundesrates evaluiert. Kersten nimmt in der Arbeitsgruppe zur Evaluation teil und setzt sich in diesem Rahmen auch dafür ein, dass die Gewalt an Männern und der Mann als Opfer von Gewalt thematisiert werden.


Kontakt
Dr. phil. Anne Kersten, Studienbereich Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit, 079 686 75 03, annegret.kersten@unifr.ch